Schweiz

«Junge Frauen sind intolerant» – oder wie man noch über die Studie hätte berichten können

Studie

Die «SonntagsZeitung» schreibt über «intolerante Frauen» – diese Punkte verschweigt sie

· Online seit 04.09.2024, 16:26 Uhr
Eine Studie soll gemäss mehreren Zeitungsartikeln beweisen, dass junge Frauen und Linke zwar Toleranz fordern, selber aber besonders intolerant sind. Das Problem: Linke Intoleranz wird gar nicht bewiesen. Stattdessen ist die Studie sehr viel komplexer.
Lara Knuchel / watson
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Im Sommer 2023 sorgte ein «SonntagsZeitung»-Artikel für Furore. Mit dem Titel «Links, urban, gebildet – und intolerant» und einer (vermeintlich) für die Schweiz aussagekräftigen, europäischen Studie wurde besonders auf junge, linke Frauen negativ fokussiert.

Das Problem – neben dem Vorwurf der einseitigen Interpretation der Studie – war, dass es gar keine Daten zur Schweiz gab. Der Schweizer Politologe Michael Hermann wollte diesem Manko entgegenwirken und befragte zum Thema «Toleranz und Meinungsfreiheit» über 3000 Schweizerinnen und Schweizer.

Die SoZ berichtete über die Studie am 1. September – und kommt praktisch zum selben Schluss wie vor einem Jahr. Untermauert wird dieser Schluss sowohl in der Onlineausgabe als auch in der Printausgabe genauso wie im Artikel vom letzten Sommer mit dem Teaserbild einer jungen Frau mit verschränkten Armen, Tattoos und Nasenring.

Acht Kapitel – ein Narrativ

Beide Male ist das Narrativ klar: Linke und junge Frauen sind intolerant. Mit ihrem «Woke»-Getue spalten sie die Gesellschaft. So zumindest lassen sich die beiden Texte lesen.

Bei der Berichterstattung zur neusten Sotomo-Studie wurden folgende acht Überschriften und damit Hauptaussagen gewählt:

watson liegt die Sotomo-Studie ebenfalls vor. Die Lektüre zeigte zwei Dinge: Die Erkenntnisse aus der Studie sind erstens ebenso komplex wie das Thema selbst. Sie zeigen aber zweitens sehr gut, woher die Konflikte über die Begriffe Toleranz und Intoleranz stammen könnten.

Aber drehen wir doch den Spiess einfach um – und schauen mal, wie man über die Sotomo-Studie auch noch hätte schreiben können. So hätte man alternativ statt der acht von der SoZ-Journalistin gewählten Punkte über folgende acht berichten können – und wäre damit immer noch genau gleich richtig (oder gleich falsch) gelegen.

Toleranz ist extrem politisch gefärbt

Für eine grosse Mehrheit der Befragten (91 Prozent) ist Toleranz ein wichtiger Wert. Allerdings: Nicht alle verstehen unter dem Begriff das Gleiche. Denn die Geister scheiden sich an der Frage, wem oder was gegenüber Toleranz besonders wichtig ist.

Ein Blick in die Daten zeigt: Frauen ist Toleranz grundsätzlich wichtiger als Männern. Linke und Frauen priorisieren eher Toleranz für progressive Themen, Rechte und Männer eher Offenheit für politische Andersdenkende.

Männer und Frauen scheinen sich an unterschiedlichen Enden des aktuellen «Kulturkampfs» zu positionieren, schreibt die Studie, was zum Auseinanderdriften ihrer politischen Identität beitragen dürfte.

Dass junge Frauen intolerant sind, wird nirgends belegt

Die Aussage, wonach junge Frauen intolerant sind, machte aber gerade in den Medien die Runde: «Junge Frauen fordern am meisten Toleranz, haben aber am wenigsten», titelte beispielsweise «20 Minuten».

Nur: In den Daten der Studie gibt es keine Zahlen, die belegen, dass junge Frauen am «intolerantesten» sind. Wie kommen aber die SoZ oder «20 Minuten» darauf, dies zu behaupten?

Zwar zeigen die Daten tatsächlich: Bis auf die SVP sehen sich alle selber als toleranter, als sie die Gesellschaft in der Schweiz wahrnehmen – insbesondere die Linken. Das könnte auch daran liegen, dass sich SVP-Wählende gemäss eigenen Angaben häufiger mit politisch Andersdenkenden austauschen als Linke und Grüne, und gerade junge Frauen tun dies vergleichsweise wenig. (Die FDP-Basis übrigens am häufigsten.) Die SoZ sieht unter anderem hier den Beweis für die Intoleranz junger Frauen. Das Team von Sotomo erklärt das aber so:

Hinzu kommt: Die beiden Polparteien Grüne (39 Prozent) und SVP (40 Prozent) gaben gleichermassen am seltensten an, in solchen Gesprächen Gemeinsamkeiten finden zu wollen (SP: 45 Prozent). Die SP-Basis scheint dafür die politische Haltung ihrer Gesprächspartner am ehesten herauszufordern.

Aber: Die Frage «Kommt es vor, dass Sie Ihre Meinung zu einer politischen Sachfrage ändern, weil jemand mit anderen politischen Haltungen gute Argumente hat?» beantwortet die SVP-Basis am häufigsten mit «Nie» oder «Selten».

So weit, so komplex – aber nachvollziehbar.

Nun unterscheidet die Sotomo-Studie aber zwischen verschiedenen Arten von Intoleranz. Nur weil sie die Toleranz gegenüber «politisch Andersdenkenden» (siehe Grafik 1) als weniger wichtig einstufen, als dies die Männer tun, heisst das aber noch nicht, dass «junge, linke Frauen» auch objektiv intoleranter sind – zeigt doch die Studie gerade, dass Toleranz eben nicht gleich Toleranz ist. Frauen empfinden zum Beispiel die Toleranz gegenüber anderen Religionen, sexuellen Orientierungen, Ethnien und Kulturen als deutlich wichtiger als Männer.

Die Sotomo-Studie befragte die Teilnehmenden aber auch zu Intoleranz. Wer selber damit konfrontiert ist, erlebt am häufigsten Intoleranz gegenüber der eigenen politischen Haltung:

Das ist insbesondere unter SVP-Wählenden der Fall: «70 Prozent der SVP-Wählenden berichten, aufgrund ihrer politischen Haltung bei anderen an die Grenzen der Toleranz zu stossen, während mit 44 Prozent ein etwas geringerer Anteil der Grünen-, GLP- oder Mitte-Wählenden ähnliche Erfahrungen machen.» Intoleranz gegenüber der politischen Gesinnung betrifft also vor allem das rechte Spektrum.

Andere Arten von Intoleranz, wie gegenüber der eigenen sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Herkunft oder Hautfarbe, werden seltener genannt. Entscheidend ist aber: «Angesichts der eher kleinen Gruppen, die von diesen Merkmalen betroffen sind, sind die knapp 10 Prozent, die Intoleranz aufgrund dieser Merkmale erfahren, dennoch als hoch einzuschätzen», heisst es in der Studie.

Junge Frauen sind am häufigsten mit Intoleranz konfrontiert

Wieso aber empfinden Frauen und Linke im Vergleich zu anderen Gruppen die Gesellschaft als Ganzes als eher intolerant?

Eine mögliche Erklärung: Junge Frauen sind besonders häufig von Intoleranz betroffen – sogar noch häufiger als die Wählenden der SVP. Nur erleben sie Frauen und Männer an ganz unterschiedlichen Orten: weniger im öffentlichen Raum oder in den (Sozialen) Medien, dafür mehr am Arbeitsplatz sowie im Privaten:

Frauen seien besonders im Privaten und im Beruflichen alltäglich mit fehlender Chancengleichheit konfrontiert, schreibt die Sotomo-Studie. Und weiter: «Während Frauen bei der Care- und Hausarbeit immer noch den Grossteil selbst erledigen, haben sie im Berufsleben immer noch nicht die gleichen Karrierechancen und Gehälter wie ähnlich qualifizierte männliche Kollegen.» Zusätzlich würden im privaten Umfeld auch «oft ungehindert Meinungen und Kommentare zur Lebensweise und Entscheidungen von Frauen geäussert», sofern Frauen nicht dem gesellschaftlichen Ideal entsprechen.

Die Studie leitet davon folgende Erkenntnisse ab:

Der Begriff «alter, weisser Mann» gilt als bedrohlicher als Frauenfeindlichkeit

Sotomo wollte von den Befragten ausserdem wissen, durch wen oder was eine offene und tolerante Schweiz gefährdet ist:

Eine Mehrheit der Befragten nannte die Anfeindungen auf den Sozialen Medien sowie Verschwörungstheorien als die grösste Gefahr. Auch die Vorverurteilung als «alter, weisser Mann» rangiert weit oben. Im Gegensatz dazu werden Frauen- und Queerfeindlichkeit als viel weniger problematisch angeschaut. Politologe Michael Hermann zieht darum das Fazit:

Nach Parteiangehörigkeit zeigte sich übrigens: Für Angehörige der SVP ist Antisemitismus weniger problematisch als für Linke. Für die «SonntagsZeitung» kommt diese Erkenntnis «überraschend».

Umgekehrt könnte man aber festhalten: Dass die Bezeichnung «alter, weisser Mann» als ähnlich starke Bedrohung für eine offene und tolerante Schweiz wie Antisemitismus wahrgenommen wird, ist – insbesondere im Lichte der historischen Dimensionen – mindestens ebenso «überraschend».

Rechte sehen Verschwörungstheorien als nicht so problematisch

Rund zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler von Grünen bis FDP sehen die offene Gesellschaft ausserdem durch Verschwörungstheorien belastet. Bei der SVP-Basis teilen weniger als die Hälfte (43 Prozent) diese Sorge. Bei der GLP ist dieser Wert am höchsten (74 Prozent).

Für Rechte ist Toleranz für andere Gruppen und Identitäten kaum wichtig

«Auffällig ist, dass für die SVP-Basis Toleranz für andere Gruppen und Identitäten nicht allzu wichtig ist», heisst es in der Studie. Tatsächlich: Die SVP-nahen Befragten sehen Islamfeindlichkeit (7 Prozent), Frauenfeindlichkeit (8 Prozent) oder Queerfeindlichkeit (6 Prozent) kaum als Bedrohung für eine offene und tolerante Schweiz.

Das kommt nicht aus dem Nichts: Ein grosser Teil der Menschen sehe beispielsweise die Gleichstellung der sexuellen Orientierungen erreicht, schreiben die Studienautoren. Und in den letzten Jahren hat sich tatsächlich viel für die LGBTQIA+-Community verändert, so wurde zum Beispiel vor zwei Jahren die Ehe für alle eingeführt. Demgegenüber stehen aber die vielen Berichte von Betroffenen, wonach sie noch immer alltäglich Diskriminierung aufgrund ihrer Sexualität erfahren. «Die Wahrnehmung scheint also zu trügen», so Sotomo.

58 Prozent der SVP-Anhängerschaft fordern hingegen selbst Toleranz für die eigene Lebensart. Andere Parteien (wie zum Beispiel die Grünen) beanspruchen zwar ähnlich viel Toleranz für die eigene Lebensart – allerdings im selben Masse auch für andere.

Für die SVP-Basis ist Antisemitismus akzeptabel – oder zumindest nicht «ächtbar»

Die Studie von Michael Hermann wollte aber nicht nur der unterschiedlichen Definition von Toleranz, sondern auch der Definition von Meinungsfreiheit nachgehen. Denn:

Eine offene Gesellschaft müsse aber zu ihrem Schutz die Grenzen des Tolerierbaren definieren. Das Problem dabei ist, und das wurde bereits oben diskutiert, dass das «Tolerierbare» – und damit auch Intoleranz – ganz unterschiedlich bewertet wird.

Ein Beispiel: Die Studie zeigt, dass nur etwas mehr als ein Drittel der SVP-Anhängerschaft Antisemitismus (37 Prozent gegenüber 62 Prozent in der Grundgesamtheit) und Sexismus (34 Prozent vs. 61 Prozent) für «inakzeptabel und zu ächten» hält.

Die SVP-Basis findet also Haltungen akzeptabel oder zumindest tolerierbar, welche die meisten anderen als inakzeptabel erachten. Diese Haltung erklärt womöglich, weshalb SVP-Wählende (neben den Grünen) am häufigsten angaben, schon mal gecancelt worden zu sein (35 Prozent gegenüber 19 Prozent insgesamt). Und: «Unter allen, die schon einmal gecancelt wurden, sieht sich die SVP-Basis am stärksten mit Unterstellung der Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen (Sexismus, Rassismus etc.) konfrontiert.»

«Die politische Haltung der Rechten ist die erfahrene Intoleranz für die Linken»

Menschen, die eher links wählen – und das sind besonders junge Frauen und Minderheiten –, wünschen sich eine offene Gesellschaft. Damit diese so bleibt, müssten aber in ihren Augen Sexismus und Fremdenfeindlichkeit geächtet werden; sie sind sensibilisierter für Diskriminierungen. Demgegenüber stehen Männer (meistens solche ohne Migrationshintergrund), welche diejenigen Positionen vertreten, die Frauen und Minderheiten gegenüber diskriminierend sein können.

Mit anderen Worten: «Während Frauen sensibilisierter sind für Diskriminierungen, sind Männer häufig skeptischer und wünschen sich stattdessen, ihre politische Haltung aussprechen zu können, ohne auf einen sozialen Backlash zu stossen», erklärt das Team von Sotomo.

Für die Männer gibt es weniger Haltungen, die inakzeptabel sind – umso wichtiger ist ihnen ihre Meinungsfreiheit. Diese hat in ihren Augen aber besonders im öffentlichen Raum sowie in den öffentlich-rechtlichen Medien in den letzten Jahren abgenommen (gut 70 Prozent der SVP-Basis stimmen dem zu).

Damit zieht die Studie unter anderem folgendes Fazit:

Fazit

Und was ist unser Fazit? Über wissenschaftliche Erkenntnisse kann man auf verschiedene Arten berichten. Man kann zum Beispiel einfach auf die Punkte fokussieren, welche die eigenen Vorurteile und das eigene Narrativ unterstützen – und die wirklichen, komplexeren Erkenntnisse ignorieren.

Die bisherigen Berichte über die Sotomo-Studie beweisen mit ihrem Text, dass die Hauptaussage eben nicht verstanden wurde: Toleranz und Intoleranz werden unterschiedlich definiert. Der «SonntagsZeitung»-Artikel beispielsweise übernimmt aber einfach den Toleranzbegriff, der eher rechts und männlich geprägt ist, nämlich: Toleranz = tolerant sein gegenüber anderen politischen Haltungen. Oder zumindest thematisiert er nur diesen. Was, gemeinsam mit den oben besprochenen Punkten, erklärt, weshalb junge, linke Frauen als «am intolerantesten» angesehen werden.

Eine Toleranz gegenüber Frauen, anderen sexuellen Orientierungen, Kulturen, Ethnien, der Herkunft etc. ist für viele hingegen nur zweitrangig – es kann aber zum Teil definitionsgemäss auch lediglich wenige Menschen betreffen. Genau diese Art von Toleranz ist aber jungen Frauen mitunter die wichtigste.

veröffentlicht: 4. September 2024 16:26
aktualisiert: 4. September 2024 16:26
Quelle: watson

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