Quelle: Klimaseniorin Pia Hollenstein redet über ihren Klage-Erfolg / TVO / 12. April 2024
Über 2500 Frauen im Pensionsalter schafften am Europäischen Gerichtshofe für Menschenrechte (EGMR) einen historischen Erfolg. Anfang April hiess der EGMR die Klimaklage der Klimaseniorinnen gut. Das Urteil löste eine grosse Kontroverse aus. Dabei ist das Niveau einiger Kritikerinnen und Kritiker auf Social Media rasch in den Keller gefallen.
Auffällig oft zielen User mit ihren Beschimpfungen auf das Alter und Geschlecht der Klimaseniorinnen ab. «Klimatanten» und «alte Weiber» mögen zu den harmloseren Beleidigungen zählen, die den Frauen des Vereins entgegenschlagen. Viele User schöpfen mit Beschimpfungen auf noch tieferem Niveau aus dem Vollen.
«Dass die Kamera bei einer solch grusigen, runzligen, alten Zwetschge keinen Sprung bekommt», kommentiert eine Frau auf Facebook den Fernsehauftritt einer Vertreterin des Vorstands. Ein Mann doppelt nach: «Vor allem verwechselt sie Klima und Klimakterium.» Ein weiterer Mann ist der Meinung, dass «nur anschauen» schon reiche.
«Wir stecken noch fast im Mittelalter»
Auch vor brutalen Kommentaren schrecken manche User nicht zurück. So ist ein User der Meinung, dass die Klimaseniorinnen «schon längst tot» seien, «hätten wir vor vier Jahren eine echte Pandemie gemacht». Die Klimaseniorinnen begründen ihr Engagement unter anderem damit, dass ältere Frauen besonders unter den häufigeren und intensiveren Hitzewellen leiden würden. Ein User schimpft nach dem Urteil deshalb: «Die Schweiz muss jetzt die Kühlräume für alte Frauen öffnen.»
Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, sagt auf Anfrage, dass sie immer wieder Kommentare dieser Art «bis zu sehr primitiven Mails» erhalte. «Dies ist für mich ganz typisch. Wir alten Frauen sind die ‹niedrigst› gehaltene Bevölkerungsgruppe. Dies erlebten wir schon viel früher – immer wieder.» Sie vermutet alte, beleidigte Männern hinter den Reaktionen. «Sie ertragen nicht, dass sie bei uns nicht mitmachen können und nun ausgerechnet diese ‹alten Frauen› noch gewinnen und berühmt werden.»
Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.
Die Co-Präsidentin ignoriert solche Kommentare. «Ich merke, dass sie mich persönlich stärker treffen, wenn sie von Frauen stammen.» Diese schrieben viel direkter. «Etwa, dass sie sich für unsere Generation Frauen schämten.» Für Wydler-Wälti steht fest: «Es ist traurig, stecken wir heute in solchen Extremfällen noch fast im Mittelalter.»
«Bild der Grossmutter mit dem Ribeli»
Vorstandsmitglied Stefanie Brander sieht sich bei den Reaktionen in frühere Zeiten versetzt. «Die Kommentare erinnern mich an die Zeit der übelsten Beschimpfungen im Kampf unserer Vorfahrinnen um das Frauenstimm- und Wahlrecht», sagt sie. «Man hat den Eindruck, in die 50er- und 60er-Jahre zurückkatapultiert worden zu sein.» Das Verspotten alter Frauen sei nichts Neues. «Das kennen wir aus der Geschichte und der Literatur seit Urzeiten.»
Für Generationenforscher François Höpflinger wiederholt sich bei den hasserfüllten Reaktionen auf die erfolgreichen Seniorinnen ein bekanntes Muster. Selbstbewusste ältere Frauen seien öfter «extrem primitiven Reaktionen» ausgesetzt als ältere Männer, sagt er. Sobald sie gewissen Normen nicht mehr entsprächen, sei dies der Fall. «Die Gesellschaft hat von älteren Frauen immer noch das Bild der Grossmutter mit dem Ribeli im Kopf.» Doch die Realität habe sich schneller verändert als das Bild der älteren Frau. Erschwerend dazu komme laut Höpflinger ihr negatives Klischee in Europa. «Man denkt zum Beispiel an die Märchen mit der bösen Stiefmutter oder Geschichten über die schreckliche Schwiegermutter.»
«Wollen sie zurück an ihren Platz verweisen»
Laut Moritz Ege, Professor für Alltagskulturen an der Universität Zürich, reizen politisch aktive Frauen insbesondere Personen aus radikalen oder sich radikalisierenden rechtskonservativen Kreisen sowie Online-Trolle. «Sie wollen sie mit ihren frauenfeindlichen Kommentaren zurück an ihren vermeintlichen Platz verweisen.» Handle es sich dazu um ältere Frauen, die weniger oft in der Öffentlichkeit stehen, verschärfe sich deren abwertende Einstellung.
Laut Ege ist es wichtig, immer wieder an die Grundlage der Gesellschaft zu erinnern. «Dies bedeutet, dass Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter und Herkunft als gleichwertige politische Akteure und Subjekte anerkannt sind.» Die Social-Media-Plattformen seien deshalb noch stärker gefragt, Kommentare zu moderieren und zu löschen. Auch User könnten ihren Beitrag gegen Diskriminierung und Hassreden leisten. «Wenn man den Eindruck hat, dass die Grenzen von Diskriminierung überschritten worden sind, ist es sinnvoll, solche Kommentare zu melden.»