Schnell eine Pizza bestellen oder den Coiffeurtermin ausmachen – ein Anruf genügt. Keine grosse Sache, könnte man meinen. Für manche aber doch. Auf Twitter finden sich unzählige Tweets, die von der Angst vor dem Telefonieren berichten:
Muss heute noch einen Termin für Stupsi beim Tierarzt ausmachen. Telefonphobie ist auf jeden Fall da. Ich verstehe ja nicht, warum heutzutage immer noch so selten Online-Terminvergabe möglich ist...
— Sophie ✨ (@diesesophsoph) March 15, 2022
Liebe meinen Freund dafür, dass er mir Arzttermine macht, weil ich ne Telefonphobie habe, that's love 🫶🏻
— anne (@m0ndphasen) September 5, 2022
Wie andere auch tippen sie lieber ins Smartphone oder nehmen lange Wege zur Terminvereinbarung auf sich. Hauptsache nicht telefonieren. Telefonphobie nennt man das. Vieles spricht dafür, dass das Phänomen Zukunft hat.
Verändertes Kommunikationsverhalten
Telefonphobie wird für sich alleine bislang klinisch nicht erfasst. Sie könnte aber durchaus zu einer neuen Ausprägung der Sozialphobie werden, meint Nadine D. Wolf, auf Phobien spezialisierte Oberärztin der psychiatrischen Klinik am Uni-Klinikum Heidelberg. Grund ist das veränderte Kommunikationsverhalten.
Philippe Wampfler, Medienpädagoge und Dozent an der Uni Zürich, beschreibt die Veränderung so: «Früher hatte man drei Möglichkeiten, wenn man sich den Rasenmäher des Nachbarn ausleihen wollte: telefonieren, einen Brief schreiben oder rübergehen. Heute schreibt man schnell eine Whatsapp. Das ist der Weg des geringsten Widerstands.»
Jugendliche telefonieren nicht mehr
Nach der JIM-Studie 2018 – JIM steht für Jugend, Information und Medien – tauschen sich 95 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland regelmässig allein über diese Kommunikationsplattform aus – im Schnitt erhalten sie 36 Nachrichten pro Tag. Nur jeder Fünfte nutzte täglich noch das Smartphone zum Telefonieren. Die JAMES-Studie 2020 der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt: 74 Prozent der Jugendlichen nutzt ihr Handy täglich zum Telefonieren, 2014 stellten die Herausgeber fest, dass das Telefonieren im Vergleich zu den Vormonaten tendenziell zurückgegangen sei.
«Ich denke, Menschen hatten auch früher Hemmungen, jemanden anzurufen», meint Medienpädagoge Wampfler. «Aber nach der Schulzeit oder dem Studium und im Job haben sie gelernt, zu telefonieren. Einfach, weil sie es mussten. Das geht heute angenehmer.»
Wenn Telefonphobie zunimmt, liegt das nach seiner Meinung an der sogenannten Affordanz, dem Angebotscharakter der Medien. Das muss nicht zum Problem werden. Aber es kann. Das Internet ist voll von Berichten Betroffener, Blogs zum Thema und von guten Tipps gegen die Telefonangst.
Nicht mal mit dem Freund telefonieren
Stephanie Caos Video, in dem sie beschreibt, warum sie Telefonieren hasst, spricht offenbar vielen aus dem Herzen: «OMG – ich bin so erleichtert», schreibt eine junge Frau. Sie dachte, sie sei die einzige mit dem Problem. Selbst wenn ihr Freund mit ihr telefonieren will, vertröstet sie ihn und sagt, «dass es zurzeit nicht geht».
Und in «GLAMunity», einem Glamour-Forum für Frauen, berichtet eine Frau: «Schon vor der Aufnahme des Telefonhörers schlägt das Herz bis zum Hals.» Die Zeit, die sie über den nötigen Anruf nachgrübelt, dauert fast immer länger als der eigentliche Anruf. Eine andere, der es nach eigenem Bekunden genauso geht, erledigt alles per E-Mail oder schiebt es auf ihren Mann ab.
Auch eine Karlsruher Studentin, die ansonsten vor grossem Publikum problemlos Solos singt, bekennt: «Ich hatte eine Zeit lang so sehr Angst vor dem Telefonieren, dass ich eine Freundin überredet habe, für mich irgendwo anzurufen. Mittlerweile geht es.» Sie ärgert sich, dass sie sich manchmal so in die Angst hineinsteigert: «Weil man weiss, dass es total bescheuert ist, dass man einfach nicht anrufen kann.»
Ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit
Für die Heidelberger Psychiaterin Wolf gibt es eine Reihe von Gründen, warum jemand Hemmungen vor dem Telefonieren hat: «Angst, abgelehnt zu werden, Angst davor, sich am Telefon peinlich oder erniedrigend zu verhalten, oder einfach auch davor, dass man am Telefon ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und mit unbekannten Personen spricht.»
Sie sieht Telefonphobie als eine Art der Sozialphobien, die gerade bei jungen Menschen verbreitet sind: «Es gibt Hinweise, dass bis zu 17 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren darunter leiden.» Junge Frauen mehr als Männer. Von Erröten, Zittern, Stottern bis hin zur Angst vor Erbrechen oder Einnässen – die Symptome vor gefürchteten Situationen können nach Erfahrung der Medizinerin für Betroffene gravierend sein.
Telefonieren neu lernen
Das neue Verhaltensmuster sollte aus Sicht der Medizinerin nicht grundsätzlich pathologisiert werden. Ärztlichen Rat sollte man suchen, wenn die Angst so gross ist, dass sie den Alltag einschränkt. «Dann sollte man unter therapeutischer Anleitung Telefonieren wieder neu lernen», sagt sie. Helfen könnten niedergelassene Psychiater oder Psychotherapeuten – und ergänzend Selbsthilfegruppen, in denen man sich mit Gleichgesinnten austauschen kann.
Telefonphobie kommt nach Beobachtung von Medienpädagoge Wampfler vor allem im beruflichen und administrativen Bereich oder bei Fremden vor. Doch was macht Telefonieren so schwer? «Hemmungen und Ängste in Bezug auf Telefonieren werden grösser, weil die Übung mit dem Umgang der Technik des Telefonierens verloren geht», vermutet er.
Flexibel und spontan reagieren
Hinzu kommt nach Angaben von Psychiaterin Wolf: «Bei der schriftlichen Kommunikation sind mehr als 90 Prozent der Kommunikationsmuster wie Mimik, Gestik oder Betonung von Aussagen ausgeblendet.» Man ist nicht sichtbar – und so weniger angreifbar. Beim Telefonat muss dagegen flexibel und spontan reagiert werden. «Das ist eng geknüpft an Sozialkompetenz.»
Ihr zufolge ist es zunächst wichtig, dass Betroffene den Teufelskreis durchbrechen, der durch eine ständige Vermeidungsstrategie entstehen kann. Sie empfiehlt, der Angst entgegenzutreten und das Telefonieren bewusst zu üben. «Dazu kann man sich zum Beispiel Stichwörter notieren oder sich einen einleitenden Satz aufschreiben. Und ganz wichtig: Lächeln hilft!»
Nicht andere zum Telefonieren vorschicken
Wer andere zum Telefonieren vorschickt, handelt nach Meinung der Experten nur auf kurze Sicht clever. Und eigentlich macht Telefonieren ja auch den jungen Leuten Spass: «Man will noch mit der Freundin quatschen», sagt Wampfler. «Nur technisch läuft das teils anders ab – über Videotelefonie oder stundenlang per Smartphone mit Kopfhörer.»
(dpa / oeb)